Nach Ablauf des Rechtsstillstands: Weniger Rechtsschutz für Betriebene als davor!

von Mario Roncoroni

Der Bundesrat höhlt via Notverordnung die Rechtsstellung der Betriebenen aus

Der Rechtsstillstand mit den anschliessenden Betreibungsferien, mit dem seit dem 19. März 2020 sämtliche Betreibungen auf Eis gelegt worden waren, ist am 19. April 2020 ausgelaufen. Wie weiter? Statt die Betriebenen weiter zu schützen, höhlt der Bundesrat ihre Rechte aus. Er baut die Verfahrensgarantien für Betriebene mit systemwidrigen Eingriffen bis unter das gesetzliche Normalniveau ab[1].

Verschlechterungen bei der Zustellung des Zahlungsbefehls

Bei der Zustellung des Zahlungsbefehls greift der Bundesrat systemwidrig in die gesetzlichen Abläufe ein. Im ordentlichen schweizerischen Betreibungsrecht kann jedermann gegen jedermann eine Betreibung einleiten, ohne dass seine Forderung vom Betreibungsamt oder von einem Gericht überprüft würde. Weil es so einfach ist, jemanden zu betreiben, verlangt das SchKG, dass der Zahlungsbefehl der betriebenen Person «zugestellt» wird. Es soll garantiert sein, dass sie den Zahlungsbefehl zu Gesicht bekommt, und sie hat die Möglichkeit, die Betreibung ebenso einfach zum Stillstand zu bringen, wie sie eingeleitet werden konnte. Sie kann direkt gegenüber dem Zustellbeamten Rechtsvorschlag erklären.

Der Bundesrat weicht von diesem zentralen Gedanken ab und lässt notrechtlich eine «Zustellung ohne Empfangsbestätigung» (lies: «Zustellung mit A-Plus-Post») zu. Diese Quasi-Zustellung soll zulässig sein,

  • wenn ein erster ordentlicher Zustellversuch gescheitert ist oder im Einzelfall aufgrund besonderer Umstände von vornherein unmöglich oder aussichtlos ist und
  • wenn die Empfängerin oder der Empfänger spätestens am Vortag der Zustellung durch telefonische Mitteilung über die Zustellung verständigt worden ist oder damit gerechnet werden darf, dass sie oder er eine schriftliche oder elektronische Mitteilung über die Zustellung spätestens am Vortag erhalten hat.

Der Bundesrat greift in die Mechanik der Betreibungsabwicklung ein und lässt zu, dass die Vorschriften zum ordentlichen Verfahren unter reichlich schwammigen Voraussetzungen ausgehebelt werden. Es wird nicht einmal an mindestens einem ordentlichen vom Gesetz vorgesehenen Zustellversuch festgehalten. Das Betreibungsamt kann in eigener Sache beurteilen, ob es diesen Aufwand einsparen will oder nicht. Und selbst wenn es darauf verzichtet, muss die betriebene Person nicht unbedingt telefonisch vorgewarnt werden. Es genügt, dass «damit gerechnet werden darf», dass sie spätestens am Vortag eine schriftliche oder elektronische Mitteilung über die Zustellung erhalten hat. Schliesslich wird nicht einmal ein eingeschriebener Brief vorgeschrieben, ein Brief per A-Plus-Post soll genügen. Der Empfang des eingeschriebenen Briefs müsste von der Empfängerin oder vom Empfänger mit Unterschrift bestätigt werden; wenn niemand angetroffen würde, käme eine Abholungseinladung mit einer siebentägigen Abholfrist in den Briefkasten. Beim A-Plus-Brief scannt die Zustellbeamtin den Strichcode und wirft den Brief in den Briefkasten: Fertig ist die Quasizustellung.

Das ordentliche Recht legt ein grosses Gewicht darauf, dass die betriebene Person den Zahlungsbefehl effektiv zu Gesicht bekommt. Wenn alle Stricke reissen, wird sogar die Polizei eingeschaltet. Der Bundesrat bringt nun mit einer Notverordnung, aber ohne Not die Symmetrie des Betreibungsverfahrens durcheinander und nimmt das Risiko in Kauf, dass Betreibungen ihren Lauf nehmen, ohne dass die betriebene Person Kenntnis vom Zahlungsbefehl hat.

Ein Beispiel: Die betriebene Person liegt mit einer Coronavirus-Erkrankung im Spital. Das Betreibungsamt weiss nichts davon und informiert sie nach einem gescheiterten Zustellversuch per E-Mail, dass am nächsten Tag ein Zahlungsbefehl in ihren Briefkasten geworfen wird. Nach ihrer Rückkehr aus dem Spital findet die betriebene Person einen Zahlungsbefehl vor, bei dem die zehntägige Frist für den Rechtsvorschlag bereits abgelaufen ist.

Wo der Rechtsstillstand sie noch vor Betreibungen schützte, beschert ihr die bundesrätliche Notverordnung Probleme, die sie unter der Herrschaft des ordentlichen Rechts nicht hätte.

Damit handelt der Bundesrat diametral gegen die Ziele, welche das SchKG mit der Bestimmung über den Rechtsstillstand verfolgt. Rechtsabbau statt Rechtsstillstand! Die Notverordnung stützt sich allerdings konsequenterweise nicht auf Art. 62 SchKG, sondern auf Art. 185 Abs. 3 der Bundesverfassung. Die Bundesverfassung gibt dem Bundesrat die Kompetenz, direkt gestützt auf die Verfassung Verordnungen zu erlassen, um eingetretenen oder unmittelbar drohenden schweren Störungen der öffentlichen Ordnung oder der inneren oder äusseren Sicherheit zu begegnen. Man hat Mühe, auch nur ansatzweise schwere Störungen der öffentlichen Ordnung oder der inneren oder äusseren Sicherheit zu erkennen, die drohen würden, wenn einfach die gesetzliche Ordnung gelten würde.

Systemwidriger Ausbau der Kompetenzen der Betreibungs- und Konkursämter

Der Bundesrat gibt den Betreibungs- und Konkursämtern die Kompetenz, über die Wiederherstellung einer Frist zu entscheiden, welche sie selber durch eine Quasi-Zustellung, wie oben umschrieben, ausgelöst haben. Damit missachtet der Bundesrat einen weiteren Systemgedanken des schweizerischen Betreibungsrechts: Die Betreibungs- und Konkursämter haben keinerlei gerichtliche Kompetenzen. Sie sind bloss Ämter, die mit der Zwangsvollstreckung betraut sind. Nun sollen sie eine Aufgabe übernehmen, welche im ordentlichen Recht der Justiz, im Kanton Bern der Aufsichtsbehörde beim Obergericht, übertragen ist. Die Betreibungs- und Konkursämter sollen also wie eine Justizbehörde, aber in eigener Sache, darüber entscheiden, ob die betroffene Person wieder in die abgelaufene Frist eingesetzt werden soll. Auch hier sieht man nicht, welche schweren Störungen der öffentlichen Ordnung oder der inneren oder äusseren Sicherheit unmittelbar drohen würden, wenn einfach weiterhin das ordentliche Recht gelten würde.

 

[1] Verordnung über Massnahmen in der Justiz und im Verfahrensrecht im Zusammenhang mit dem Coronavirus (COVID-19-Verordnung Justiz und Verfahrensrecht); SR 272.81

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